In der Taucherglocke leben

Montag – 17. Dezember. Ich habe Nachmittagsdienst.
Ruhig ist es heute im Hospiz Haus Brög zum Engel. Wir sind nicht voll besetzt, was konkret heißt, dass nur drei der fünf Zimmer belegt sind. Alle Gäste sind versorgt – sie schlafen oder haben Angehörige bei sich zu Besuch, so dass meine Anwesenheit im Zimmer bei einem der Gäste ncht nötig ist. Der Zivi erledigt bereits einige wichtige Dinge – er ist in der Apotheke und holt Medikamente. Was tun? Ich gehe durchs Haus und sehe einen ganzen Berg Bügelwäsche liegen. Also gut – ich bügle die Kleinteile per Hand und das ist für mich heute gar nicht so schlecht, denn man ist für sich und die Gedanken können wandern, wohin es sie gerade treibt…

Sie treiben zu Herrn E., einem Gast, der vor bald zwei Jahren bei uns verstorben ist.
Ich hatte zu ihm einen besonders guten Draht – die Chemie stimmte, wie man so sagt. Herr E. war gerade knapp über 50 Jahre alt und litt an der seltenen Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose – Steven Hawkins leidet auch unter dieser Krankheit). Sie ist noch nicht heilbar. Sie führt zu Muskellähmung und Muskelschwund – einschließlich der Atemmuskulatur.

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Kerzenhalter aus Treibholz – handmade with love…

Herr E. konnte so gut wie überhaupt nicht mehr sprechen – unter unglaublichen Anstrengungen gelang es ihm, manchmal ein Wort zu formulieren – eher zu keuchen, herauszugurgeln. Es ging mir sehr zu Herzen, zu sehen, wie hinter diesem Körper, zu fast keiner Bewegung mehr fähig, ein hellwacher, sehr intelligenter Geist zu spüren war. Seine Augen sagten mir, dass er seine Situation glasklar erkennt – zeigten mir seine Verzweiflung, seine Angst vor dem Sterben.

Nicht leicht, Zeit mit jemandem zu verbringen, der geistig voll und ganz auf der Höhe ist, sich aber so gut wie nicht mitteilen kann. Man kann in Seminaren, Fortbildungen und Kursen zu Sterbebegleitung so viel Wichtiges lernen – dennoch: ist man direkt damit konfrontiert, hilft einem am Besten das Herz und das Gefühl. Versuchen zu vermitteln, dass man da ist, versteht, „mitträgt“, und oftmals habe ich erfahren, dass Lachen und Humor große Retter sind.
So habe ich mit Herrn E. durchaus lustige Momente erlebt – z.B. als ich ihm Geschichten von meinem pubertierenden Sohn erzählte (er selbst hatte auch einen davon…).

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf ein unglaubliches kleines Buch hinweisen.
Geschrieben wurde es von Jean-Dominique Bauby – ehemals Chefredakteur der Zeitschrift „Elle“.

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Kurzbeschreibung aus amazon:
Ein Akt der Selbstbehauptung angesichts der totalen physischen Niederlage. Ein erschütterndes Selbstzeugnis, ein einzigartiges Stück Literatur und ein Buch, das Mut macht zum Leben.
Er war 43 Jahre alt, Vater zweier Kinder und erfolgreicher Redakteur, als ihn am 8.12.1995 ein Gehirnschlag all seiner bisherigen Lebensmöglichkeiten beraubte. Von diesem Tag an blieb er vollständig gelähmt, unfähig zu sprechen, zu schlucken oder auch nur ein Glied zu rühren, und die einzige Möglichkeit, sich verständlich zu machen, war das Blinzeln mit einem Auge. Fünfzehn Monate später beendete er ein Buch, das er allein mit dem linken Augenlid diktiert hatte.
Ein einzigartiges Dokument: zum ersten Mal berichtet ein Opfer des Locked-in-Syndroms, was in einem Menschen vorgeht, der äußerlich zur Statue erstarrt, doch innerlich quicklebendig geblieben ist. Bauby selbst hat die Hoffnung nie aufgegeben. Die Krankheit hat ihn zu einem Schriftsteller gemacht, der nicht nur mit bewundernswertem Humor seine Situation analysiert, sondern Phantasie und das Schreiben als das beste Gegenmittel begreift.

Dieses Buch hat mir geholfen zu verstehen, wie es in einem Menschen aussieht, der körperlich vollkommen „ausgeschaltet“ ist – der Geist aber hellwach und glasklar… es hat mir sehr geholfen, meine Hemmung wegzuschieben und „selbstverständlich und natürlich“ mit Herrn E. umzugehen. Ich glaube, genau das hat ihm gut getan.

Blogeintrag vom 19.12.2007