Atemnot

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Wo ist oben? Wo ist unten? Herbststimmung am Degersee – Foto von Rolf

Atemnot plagt sie momentan sehr. Sie ist dann nicht gerne allein und sehr dankbar, wenn jemand bei ihr bleibt. Ich sitze den ganzen Montagnachmittag bei ihr am Bett. Sie legt ihre Hand auf meine und versucht, sich zu entspannen; ruhig zu atmen. Es ist still. Hin und wieder dieses typische, leise Geräusch des Atemgerätes. Immer wieder richtet sie an ihrer Nase die Düsen, die ihr Sauerstoff geben und das Atmen sehr erleichtern. Sie drückt meine Hand. Es geht etwas besser. Die Präsenz hilft ihr ruhig zu bleiben und keine Panik zu bekommen. Das Sprechen fällt ihr schwer, aber sie möchte so gerne erzählen. Dinge aus ihrem Leben, die ihr wichtig sind. Ich beruhige sie und sage, dass sie sich auf den Atem und die Ruhe konzentrieren kann; wir haben noch Zeit zum Sprechen… Sie zeigt mir die von Krebs befallenen Hautstellen. Es fühlt sich an wie ein Schildkrötenpanzer. Deshalb kann sie nur auf dem Rücken liegen. Ihr, die immer eine Seitenschläferin war, fällt dies nicht leicht. Die Atmung wird nach einer Stunde merklich tiefer. Sie möchte nun gerne aufstehen und in ihrem Sessel sitzen. Ein technisches Wunderwerk! Sie erklärt mir stolz alle Funktionen. Es gibt sogar einen “Rausschmeißer”, sagt sie lächelnd, der Lehne und Sitzfläche so anhebt, dass man plötzlich “wie von selbst” steht. Toll! Sie genießt es, nicht mehr im Bett zu liegen. Die Nacht ist gar so lang. Und nun erzählt sie. Ich bin sehr bewegt, denn sie hat mit ihren 86 Jahren sehr viel erlebt. Ich blicke in ihr Gesicht und finde sie sehr schön. Sie ist von der Krankheit gezeichnet. Die Krankheit konnte aber nicht die Schönheit vertreiben. Ich sage ihr, wie schön ihr Gesicht ist, und dass sie keine bitteren Falten im Gesicht hat. Bei allem, was sie mir aus ihrem Leben erzählt hat ein Wunder!
Oh, sie hat plötzlich so große Lust auf eine Mandarine! Die hole ich ihr in der Küche, und es ist eine Freude, ihr zuzusehen, wie sie genüsslich die Frucht schält und Schnitz für Schnitz genießt. Sie vermisst ihre weiche Kaschmirdecke von zu Hause. Die werden wir ihr auf jeden Fall holen. Schön soll sie es haben bei uns im Hospiz. Sie sagt mir, dass sie es bereut, nicht schon eher zu uns ins Haus gekommen zu sein. Sie fühlt sich liebevoll betreut, und das tut ihr so gut.
Ich muss mich verabschieden. Es ist 17 Uhr und ich habe noch Termine.
Ich komme bald wieder zu Ihnen, verspreche ich ihr.
“Ich bitte Sie recht herzlich darum!” sagt sie – und der Abschied fällt mir schwer…

Blogeintrag vom 08.11.2007