Bedingungslose Liebe

Was jammern wir oft wegen Nichtigkeiten – klagen über Dinge, die es einfach nicht wert sind…
Aber, so ist das Leben eben! Hin und wieder tut es uns aber gut, daran zu denken, dass es da viel größere Schicksalsschläge gibt, wie eine Trennung vom langjährigen Partner und oftmals das damit verbundene Auseinanderbrechen der Familie, der Verlust der Arbeit, Geldsorgen und damit Sorgen um die Existenz der Familie, Verlust von Heimat durch Umweltkatastrophen… so viele Dinge, die einem das Leben bescheren kann und, jedes für sich genommen ist eine große Wunde, die es einem zufügt.

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Bei der Arbeit im Hospiz denke ich immer wieder an folgendes Zitat von Sogyal Rinpoche in “Das Tibetische Buch vo

m Leben und vom Sterben” – es veranschaulicht, wie schwer es ist, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen:

“Wir vergessen leicht, dass Sterbende im Begriff sind, ihre gesamte Welt zu verlieren: ihre Lieben, ihren Besitz, ihr Haus, ihren Beruf, ihren Körper und ihren Geist – sie verlieren restlos alles. Alle einzelnen Verluste, die uns im Leben vielleicht treffen könnten, sind, wenn wir sterben, zu einem einzigen, überwältigenden Verlust zusammengefasst – wie kann es daher verwundern, wenn jemand, der unter dem Eindruck dieser Erfahrung steht, manchmal traurig, in Panik oder zornig ist? Elisabeth KüblerRoss spricht von fünf Stadien im Prozess des Ins-Reine-Kommens mit dein Sterben: Leugnen, Wut, Verhandeln-Wollen, Depression und Annehmen. Sicher durchläuft nicht jeder alle fünf Stadien, auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Für die einen mag der Weg zum Annehmen äußerst lang und dornig sein, andere kommen vielleicht überhaupt nicht dahin, ihren Tod zu akzeptieren.”

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Bedingungslose Liebe ist es, wozu uns Sogyal Rinpoche rät.

“Ein sterbender Mensch muss zuallererst Liebe spüren; diese Liebe muss frei sein von jeglicher Erwartung, so bedingungslos wie irgend möglich. Dazu braucht es keinerlei Expertenwissen. Seien Sie einfach natürlich, seien Sie Sie selbst, ein wahrer Freund, eine wahre Freundin, und der Sterbende wird zweifellos spüren, dass Sie wirklich bei ihm sind, einfach von Mensch zu Mensch gleichberechtigt mit ihm umgehen.

Wenn ich sage, «dem Sterbenden bedingungslose Liebe erweisen», dann ist das unter bestimmten Umständen allerdings alles andere als einfach. Wir haben eventuell selbst eine lange Leidensgeschichte mit ebendiesem Menschen; vielleicht plagen uns Schuldgefühle wegen irgendeines Unrechts, das wir dem Sterbenden in der Vergangenheit angetan haben, oder wir hegen Zorn und Abneigung wegen etwas, was dieser Mensch uns angetan hat.

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Darum will ich hier zwei ganz einfache Wege vorstellen, Ihre Liebe gegenüber dem Sterbenden wieder zu befreien. Diejenigen meiner Schülerinnen und Schüler, die mit Sterbenden arbeiten, haben, wie auch ich selbst,beide Methoden als äußerst wirksam erfahren.

Schauen Sie sich zuerst den sterbenden Menschen vor Ihnen an und betrachten Sie ihn als Ihnen gleich; er hat dieselben Bedürfnisse, denselben grundlegenden Wunsch, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden, dieselbe Einsamkeit, dieselbe Angst vor dem Unbekannten, dieselbe geheime Traurigkeit, dieselben halb eingestandenen Gefühle von Hilflosigkeit wie Sie. Wenn Sie das aufrichtig empfinden, merken Sie, wie Ihr Herz sich diesem Menschen öffnet und Liebe sie beide verbindet.

Der zweite Weg, den ich als noch wirkungsvoller erlebt habe, besteht darin, sich – ohne zu zögern – selbst in die Lage des Sterbenden zu versetzen. Stellen Sie sich vor, Sie lägen dort auf dem Bett, allein, in Schmerzen und den Tod vor Augen. Dann fragen Sie sich aurrichtig: Was würden Sie am meisten brauchen? Was würden Sie sich wirklich wünschen? Was würden
Sie von dem Freund an Ihrem Bett erwarten?

Wenn Sie diese beiden Übungen machen, werden Sie herausfinden, dass der Sterbende genau dasselbe will, was auch Sie sich am sehnlichsten wünschen: bedingungslos geliebt und angenommen zu werden.

Auch habe ich oft gesehen, dass gerade sehr kranke Menschen sich nach Berührung sehnen. Sie möchten als Menschen behandelt werden und nicht als Krankheitsfälle. Man kann Schwerkranken sehr viel Trost geben, indem man einfach nur ihre Hand hält, ihnen in die Augen schaut, sie zärtlich massiert oder sie einfach im Arm hält und sanft im selben Rhythmus mit ihnen gemeinsam atmet. Der Körper hat seine eigene Sprache der Liebe; nutzen Sie sie, ohne gehemmt zu sein, und Sie werden dem Sterbenden Wohlbefinden und Trost spenden.”

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Sogyal Rinpoche, geboren 1948 in Kham, Tibet, ist tibetischer Meditationsmeister und Lehrer der Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus. Ich zitiere oben aus dem überaus empfehlenswerten Werk
“Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben – Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod”

Blogeintrag vom 22.10.2007