Aus dem Traumbuch
Im Traum saß ich vor einem goldenen Spiegel, um mich zu betrachten. Erschrocken stellte ich plötzlich fest, daß ich nur die Umrisse meines Gesichtes sehen konnte. Ich prüfte, ob der Spiegel nicht blind war, aber das Glas war klar, wie ich feststellte. Ich legte meine Hände auf mein Gesicht, um sicher zu sein, daß meine Augen da waren, mein Mund und meine Nase. Ich schaute erneut in den Spiegel und sah wieder nur die schattenhaften Umrisse meines Kopfes. „Ich habe mein Gesicht verloren“, rief ich plötzlich ganz laut. Daraufhin kamen durch die Tür meines Zimmers einige meiner besten Freunde. Ich wiederholte noch einmal, daß ich mein Gesicht nicht mehr finden könne.
Meine Freunde versuchten mich zu beruhigen. „Dein Gesicht hast du nicht verloren“, sagten sie, „wohl aber dein Selbstbild aus dem goldenen Spiegel.“ Ich hatte Mühe, dies zu verstehen, war mir aber trotzdem schon im Traum bewußt, daß es notwendig war, mich auf die Suche nach einem anderen Spiegel zu machen.“
Vor jedem steht ein Bild, des was er werden soll,
solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
Angelus Silesius
(Text aus „Schattenzeiten – Lichtspuren“ Frauenportraits, KiensVerlag)
Foto oben: Callelongue
Foto unten: Montagne Ste. Victoire
beide von Stefan!