Was immer du erlebst

Was immer du erlebst …

Der Duft nach dem Regen im nassen Kleinmädchen-Haar,
geheime Spiele, verboten und wunderbar,

die Angst im finsteren Keller, nachts und allein,
der Hund, der getreten wird, bloß weil er Hund ist und klein,

der Lehrer, der dich gehorchen und lügen lehrt,
der Schrei eines Zugs, der mit dir in die Einsamkeit fährt,

die künstlichen Zähne im Glas am Bett Onkel Pauls
und der traurige Hut auf dem Kopf eines Droschkengauls,

der Freund, der schweigend für dich die Prügel bezieht,
und der Feind, der dich hasst, nur weil er dich glücklich sieht.

Und jede Einzelheit – denkst du noch dran? – war einmal wichtig,
nichts schien dir banal.

Denn alles das erlebt man irgendwann
zum ersten Mal.

Das Geheimnis der Tür, hinter der jemand Geige spielt,
das Kind, das auf dich mit dem Spielzeugrevolver zielt,

die Finsternis einer Umarmung, in der man nicht liebt,
der Hunger nach einer Speise, die es nicht gibt,

das bezaubernde Lächeln der Braut im unmöglichen Kleid,
der Arzt, der dir sagt: „Es war alles umsonst – tut mir leid“,

das Fischerboot und der Meerwind in deinem Haar,
dein Spiegelbild hinter Flaschen in einer Bar,

das sanfte Licht eines Sterns im nächtlichen Blau
und der Schatten von Laub auf der Haut einer schlafenden Frau.

Und jede Einzelheit – du denkst nicht dran – wird einmal wichtig.
Nichts mehr ist banal, denn alles das erlebst du irgendwann
zum letzten Mal.

Michael Ende aus „Trödelmarkt der Träume – Mitternachtslieder und leise Balladen“

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